Die Aufgabe und Verantwortung eines spirituellen Lehrers

For true friendship to develop there can be no hierarchy. – Francis Lucille 


Aufgrund verschiedener Zuschriften und Kommentare möchte ich im Folgenden in Worte fassen, was meiner Meinung nach einen guten spirituellen Lehrer ausmacht. Das ist mir vor allem im Sinne von Transparenz wichtig, da ich selbst zunehmend in dieser Rolle gesehen werde.


Ich glaube, dass spirituelle Lehrer sowohl Unheil anrichten als auch viel Gutes bewirken können – je nachdem, wie sie ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung gerecht werden. Und natürlich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gutes bewirken, wenn sowohl ihnen selbst als auch ihren Schülern glasklar ist, was ihre Aufgabe letztendlich ist.


Meines Erachtens besteht diese Aufgabe technisch gesprochen darin, das Suchen und Streben der Schüler von den Bewusstseinsobjekten (also einfach alles, was unsere Aufmerksamkeit erfassen kann) zum essentiellen Selbst umzuleiten – da der Schüler dadurch von seiner Abhängigkeit von bzw. Anhaftung an Bewusstseinsobjekte (z.B. mentale Konstrukte, Personen, Beziehungen, Geld, Substanzen, physische Objekte usw.) befreit wird – und schließlich feststellt, dass es immer sein eigenes Selbst war, wonach er in Wahrheit gesucht hatte. Mit anderen Worten: Der Lehrer hat die Aufgabe, den Schüler zu der Erkenntnis zu führen, dass der Schüler selbst das ist, was er sein ganzes Leben lang gesucht hat – sodass sein Suchen schließlich in sich selbst endet. Ab diesem Punkt kann der Schüler dann auch alle Bewusstseinsobjekte ohne Anhaftung frei von Abhängigkeit genießen und sie als das wertschätzen, was sie wirklich sind. Anders gesagt: Die Aufgabe des Lehrer besteht darin, den Schüler zu der Erkenntnis zu führen, dass ihn nichts glücklich machen kann – weil er selbst das Glück ist, das er zuvor in objektiver Erfahrung gesucht hat.


Fünf kurze Erläuterungen:


1: Was sind Bewusstseinsobjekte oder kurz Objekte? Alles was wir wahrnehmen bzw. mit unserer Aufmerksamkeit erfassen können – also z.B. Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke, Personen, Geisteszustände, materielle Objekte usw. 


2: Was ist objektive Erfahrung? Das Wahrnehmen bzw. Erfahren bzw. Erleben von Bewusstseinsobjekten.


3: Was ist das essentielle Selbst? Das Subjekt aller objektiven Erfahrung (und in ultimativer Analyse auch die Substanz, aus der alle objektive Erfahrung besteht).


4: Warum ist es ein Problem, Glück in objektiver Erfahrung zu suchen? Weil objektive Erfahrung impermanent ist, also kommt und geht, weshalb das Suchen von Glück in objektiver Erfahrung zwangsläufig ein Hamsterrad ist.


5: Was ist die Alternative? Empirisch erkennen, dass das Glück nicht da draußen in den Objekten, sondern direkt hier in dir, im Subjekt, ist – und fortan nicht mehr handeln, um Glück zu erlangen, sondern um Glück zum Ausdruck zu bringen.


Ich möchte nun den typischen Werdegang skizzieren, der überhaupt dazu führt, dass sich jemand einen spirituellen Lehrer sucht – und dann anhand dieses Beispiels auch auf die Gefahren eingehen.


Mit “spiritueller Lehrer” meine ich jemanden, von dem andere Menschen etwas über spirituelle Themen lernen – völlig unabhängig davon, ob das Label “spiritueller Lehrer” von ihm oder seinen Schülern verwendet wird oder nicht. Und mit “spirituell” meine ich das Gegenteil von “materiell” – obwohl dieser Dualismus letztendlich natürlich ein illusionärer Dualismus ist – aber das ist demjenigen, der gerade erst beginnt, sich mit “spirituellen” Themen zu beschäftigen, eben noch nicht klar.


Dieser Beginner wendet sich im Regelfall deswegen spirituellen Themen zu, weil er von den weltlichen Dingen hinreichend enttäuscht wurde. Die allermeisten Menschen sind in materialistisch konditionierten Familien aufgewachsen und betrachten spirituelle Themen daher von Haus aus als etwas für schräge Vögel, weltfremde Hippies usw. “Normale Leute” suchen ihr Glück nicht geistigen (= spirituellen) “Dingen”, sondern in “handfesten” Dingen wie beruflichem Erfolg, Konsum, Geld, Sex, Ruhm usw. – daher muss erstmal viel passieren, bis sich Otto Normalverbraucher auf “spirituelle” Themen einlässt. 


Das kann zum Beispiel der Burnout, die Depression oder die extrem schmerzhafte Trennung sein. Oder das Gefühl von chronischer Einsamkeit trotz zahlreicher Kontakte. Oder einfach die Erkenntnis, sich im Kreis zu drehen, im Hamsterrad zu laufen, nie wirklich zufrieden zu sein, egal was man erreicht. 


Aber ganz gleich welche konkrete Form diese Enttäuschung annimmt, sie führt dazu, dass der Sucher sich der Idee öffnet, dass das Glück bzw. die Zufriedenheit, nach der er all die Jahre vergeblich gesucht hat, nicht draußen in der Welt, sondern innen, in ihm selbst, zu finden ist. Metaphorisch gesprochen: Nachdem du sehr lange vergeblich nach deiner Brille gesucht hast, greifst du dir verzweifelt an den Kopf – und bemerkst, dass deine Brille die ganze Zeit in deinen Haaren gesteckt hat.


Diese Berührung mit dem Gesuchten ist im Kontext der spirituellen Suche, der Suche nach dauerhaftem Glück und Zufriedenheit, meistens mit einer Person verbunden – mit der Person, die den Sucher zum ersten Mal mit seinem essentiellen Selbst, seinem wahren Ich, in Berührung gebracht hat. In meinem Fall war das Rupert Spira. 


Kurz nachdem ich per YouTube auf ihn gestoßen war, habe ich an einem Online Satsang teilgenommen – und wurde glücklicherweise enttäuscht. Ich stellte ihm eine Frage und bekam eine Antwort, die ich nicht verstand – und er verstand nicht, was ich nicht verstand und wusste daher nicht, wie er mir weiterhelfen sollte. Diese Ent-täuschung war rückblickend sehr gut für mich – weil sie mir gleich zu Beginn zeigte, dass die Person, die mich zum ersten Mal den tiefen Frieden meines Selbst erfahren ließ, auch nur ein Mensch ist. Das verhinderte von Anfang an unrealistische Erwartungen, Projektionen und dergleichen. Die Tatsache, dass er meine Frage nicht so beantworten konnte, dass ich sie verstand, zwang mich außerdem dazu, mich selbst an die Arbeit zu machen – worüber ich heute heilfroh bin.


Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen anderen Mentor unbewusst idealisiert und dadurch Erwartungen auf ihn projiziert, die er unmöglich erfüllen konnte. Das führte zu einem verkrampften Verhältnis – obwohl es nie ein unangenehmes Ereignis oder dergleichen gegeben hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich den Grund unter der Oberfläche erkannte und innerlich losließ. Seitdem ist unsere Beziehung bestens – ich würde sie als echte Freundschaft zwischen zwei Menschen mit unterschiedlicher Position in der kontextuellen Hierarchie beschreiben.


Rupert Spira hat einen vergleichbaren Prozess in Bezug auf sein Verhältnis mit seinem Lehrer Francis Lucille beschrieben. Zuerst die Vergötterung, die Projektionen, die Idealisierung – und dann schließlich die echte Freundschaft. Und echte Freundschaft erfordert Ebenbürtigkeit. Damit meine ich nicht die Verleugnung unterschiedlicher Positionen in der kontextuellen Hierarchie, sondern das gemeinsame und oftmals unbewusste Verständnis, dass wir außerhalb der Rollen, die wir im Spiel des Lebens spielen, gleich sind.


Wer von anderen Menschen als spiritueller Lehrer oder Quelle von Weisheit und Erkenntnis gesehen wird, bewegt sich auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass er den Schüler aus Angst vor Verantwortung abweist – auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass er das Interesse des Schülers missbraucht. In beiden Fällen wird er seiner Aufgabe nicht gerecht und richtet Schaden an – auf der einen Seite durch unterlassene Hilfeleistung, auf der anderen Seite durch toxische Hilfe.


Nur in der Mitte, auf dem schmalen Grat zwischen diesen beiden Abgründen, kann er seine Aufgabe erfüllen – die Abhängigkeiten des Schülers auflösen, ohne selbst zum Gegenstand neuer Abhängigkeit zu werden.


Ich habe mich Rupert Spira zugewandt, weil ich intuitiv ahnte, dass dieser Erkenntnisweg mein Leid reduzieren und mein Leben positiv verändern wird. Genau das ist passiert. Und was hat mich das gekostet? Praktisch nichts. Ich habe mir im Laufe der Jahre drei Bücher von Rupert Spira gekauft und zweimal 5 € für die Teilnahme an Online Events bezahlt. Ich habe also insgesamt nicht mal 100 € ausgegeben – aber mehr bekommen als Geld kaufen kann. Dabei wäre es für jemanden wie Rupert Spira leicht, das Interesse, die Hoffnungen und Projektionen seiner Schüler auszunutzen. Doch weder nutzt er seine Schüler aus, noch weist er sie ab. Stattdessen verschenkt er seine Hilfe, z.B. in Form von zahllosen Videos, Podcasts und Essays, die völlig kostenfrei jedem zur Verfügung stehen, der der englischen Sprache mächtig ist. 


Wie könnte man sich auch anders verhalten, wenn man empirisch verstanden hat, dass Bewusstseinsobjekte nicht glücklich machen? Geld, Macht usw. sind Werkzeuge, die wir in einem gewissen Maße brauchen, um ein gutes Leben zu leben, und wer mehr hat, der kann auch mehr geben – aber letztendlich können Geld, Macht usw. nur Bewusstseinsobjekte bewegen. Und Bewusstseinsobjekte machen nicht glücklich, auch wenn die meisten Menschen ihr Glück auf sie projizieren. 


Ein spiritueller Lehrer hat die Aufgabe, genau dieses Projizieren als den Irrweg zu enttarnen, der er ist – indem er dem Schüler zeigt, dass das, wonach er immer gesucht hat, nicht in den Objekten, sondern im Subjekt ist. Wer von anderen als spiritueller Lehrer gesehen wird, explizit oder implizit, läuft jedoch immer Gefahr, selbst zum Objekt der Projektionen seiner Schüler zu werden. 


Wenn er das zulässt, verfehlt er seine Aufgabe, da sein Schüler dann nicht von der Abhängigkeit von bzw. Anhaftung an Objekte befreit ist, sondern die alten Objekte bloß gegen ein neues Objekt, den Lehrer, getauscht hat. Wie kann der Lehrer es also verhindern, selbst zum Objekt der Abhängigkeit seiner Schüler zu werden? 


Indem er diese Gefahr anspricht und erklärt.


Indem er die (oft unbewussten) Versuche der Schüler, sich ihm zu unterwerfen, abweist.


Indem er das Suchen und Streben seiner Schüler unnachgiebig immer und immer wieder zu ihrem Ursprung umlenkt.


Er muss sich also den Idealisierungen und Projektionen seiner Schüler konsequent verweigern – gleichzeitig muss er aber auf seine Schüler eingehen und sie “da abholen wo sie sind”. Das bedeutet, dass es kein festes Schema, kein starres System oder dergleichen geben kann, sondern der individuelle Schüler mit seinen tatsächlichen Anliegen im Mittelpunkt steht. 


Metaphorisch gesprochen sehe ich mich im Kontext dieser Rolle als winzig kleinen Teil eines unvorstellbar großen Netzwerks der Freundschaft, Fülle und Zufriedenheit – und meine Aufgabe besteht einfach darin, am Erhalt und Ausbau dieses Netzwerks mitzuwirken, indem ich in meinen eigenen Worten sage, was dieses Netzwerk schon seit Jahrtausenden sagt: Du selbst bist das, wonach du immer gesucht hast.


Manche Menschen fühlen sich von dieser Aussage angesprochen und wollen mehr von mir dazu hören. Also sage und schreibe ich mehr dazu und sie hören und lesen solange, bis all ihre Fragen beantwortet sind oder bis sich ihr Interesse anderen Menschen oder Themen zuwendet. Und ein paar Menschen werden sich im Laufe der Zeit auch selbst als Teil dieses Netzwerks fühlen und beginnen, ebenfalls an seinem Erhalt und Ausbau zu arbeiten.