Der Junge und die Ritter
Woher kommen Leid und Bosheit in der Welt?
Ich bin davon überzeugt, dass sich das Schlechte in der Welt aus der Angst und Schwäche im Menschen speist. Und da man Angst und Schwäche mit Kraft und Selbstbestimmung besiegt, arbeite ich konsequent daran, mich und meine Mitmenschen immer noch stärker und immer noch selbstbestimmter zu machen.
Mehr zu meinem Warum in einer kurzen Geschichte:
Es war einmal ein kleiner Junge, der spielte gerne mit seinen Freunden und fand Ritter toll. Seine Freunde fanden Ritter auch toll, und mit Stöckern und Plastikschwertern kämpften sie gemeinsam epische Schlachten und erlebten die glorreichsten Abenteuer.
Ein paar Jahre später, der Junge war inzwischen 13 Jahre alt, erlebte er keine Abenteuer mehr. Er hatte kaum noch Zeit für seine Freunde und seine Freunde hatten kaum noch Zeit für ihn. Denn alle mussten in die Schule gehen und Hausaufgaben machen. Der Junge fragte sich immer, wozu er lernen sollte, was er da lernen sollte. Doch das konnte ihm niemand wirklich erklären und er spürte, dass es sowohl seine Eltern als auch seine Lehrer ärgerte, wenn er immer wieder nach dem Warum und Wozu fragte. So bekam der Junge das Gefühl, dass seine Lehrer und seine Eltern ihn nicht mehr verstanden. Denn früher hatte er ja auch immer Fragen gestellt – und hatte echte Antworten bekommen. Doch nun bekam er immer Antworten, die scheinbar nur dazu da waren, ihn abzuwimmeln. Es waren ganz oberflächliche Antworten, Ausflüchte, die Sinn und Zweck nicht erklärten. Er war sich nicht sicher, ob das an seinen Fragen oder an den Erwachsenen lag, aber er war sich sicher, dass es keinen Sinn mehr hatte zu fragen. Also hörte er auf.
Einigen seiner Freunde ging es genauso. Mit diesen Freunden verstand er sich gut und fortan fragten sie einfach sich untereinander anstatt ihre Lehrer und Eltern. Sie alle verstanden sich untereinander, aber keiner von ihnen verstand sich mit Lehrern und Eltern. Deswegen hielten der Junge und seine Freunde immer zusammen. Der Junge und seine Freunde spielten zwar nicht mehr Ritter und erlebten auch keine großen Abenteuer mehr, aber dafür begann nun Schritt für Schritt ein großes Drama namens Erwachsenwerden. Alles wurde immer komplizierter und gleichzeitig fühlten er und seine Freunde sich immer weniger verstanden, zunehmend auch untereinander. Das Gefühl, nicht alleine und doch einsam zu sein, griff immer weiter um sich. Und umso mehr sich dieses Gefühl verbreitete, desto blöder wurde alles. Da waren Mädchen, die sich immer wieder die Arme aufritzten, da waren fiese Prügeleien unter den Jungs, da waren Zigaretten, Alkohol und Drogen.
So gingen einige Jahre ins Land und trotz allem Kummer hatte der Junge tief im Inneren noch das Gefühl, dass es auch wieder besser werden könnte. Ritter gab es nicht mehr, weder in der Welt noch in seiner Fantasie, aber es gab Soldaten und die kämpften auch. Der Junge war inzwischen 17 Jahre alt und, nachdem er verurteilt, sitzengeblieben und von zuhause weggelaufen war, hatte er nun doch einen Schulabschluss. Im Militär sah er die Chance, dem Sumpf seiner Vergangenheit entkommen zu können und gut ins Erwachsenenleben zu starten. So folgte auf die Schulpflicht nun also die Pflicht, treu seiner Nation zu dienen und der Junge begann zu lernen, was die Unterschiede zwischen Rittern und Soldaten sind.
Doch das dauerte viele Jahre. Mit 21 war er in Afghanistan, mit 23 im Krankenhaus und mit 25 nicht mehr beim Militär. Der kaputte Rücken heilte wieder und auch sein Geist wuchs, denn er studierte, las dicke Bücher und grübelte viel. Er arbeitete dann für eine große Bank und da lernte er auch jemanden kennen, der bereits als junger Mann angefangen hatte, Wohnungen zu kaufen und zu vermieten. Als der Junge ihn kennenlernte, setzte sich der Mann gerade zur Ruhe und war glücklich und zufrieden. Da beschloss der Junge, es genauso zu machen und fing an zu arbeiten.
Ein paar Jahre später hatte der Junge viel gelernt und besaß inzwischen selbst mehrere vermietete Wohnungen, so wie der Mann, den er in der Bank kennengelernt hatte. Er war noch jung, aber bereits auf dem besten Weg, sich irgendwann selbst glücklich und zufrieden zur Ruhe zu setzen.
Doch dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Der Staat, dem er einst als Soldat gedient hatte, schränkte das öffentliche Leben stark ein, erfand verrückte neue Regeln und missachtete Prinzipien, für die zehn Jahre zuvor Kameraden ihr Leben in Afghanistan gelassen hatten. Das verstand der Junge nicht. Und er verstand auch nicht, dass sich niemand daran zu stören schien. Alle Menschen, die hinterfragten, was im Land und in der Welt geschah, wurden als schlechte Menschen dargestellt. Das erinnerte ihn an die letzten Tage seiner Kindheit, als die Erwachsenen aufhörten, ehrliche Antworten zu geben.
Es war wie damals: Wer sich nicht mit oberflächlichen Antworten und Ausflüchten zufrieden gab, der machte sich unbeliebt. Wieder wurde das Fragen nach Grund und Zweck bestraft und wieder tat er sich mit denen zusammen, die sich davon nicht einschüchtern ließen. Allerdings war er inzwischen 20 Jahre älter geworden und vertraute sich nun mehr als mit 13. Deswegen wurde er sich diesmal nach einiger Zeit sicher, dass es nicht an seinen Fragen, sondern an den Befragten lag. Das Ausweichen, das Vorschieben, das Vortäuschen, die abweisenden Reaktionen und der Ärger über seine Hartnäckigkeit, all das lag nicht an seinen Fragen, sondern an der Angst der Befragten. Jetzt und damals passierte das Gleiche: Er konfrontierte die Menschen durch seine Fragen mit ihrer eigenen Unsicherheit. Begründen, erklären und rechtfertigen liegen nah beieinander. Und niemand rechtfertigt sich gerne, weder Eltern noch Lehrer, noch Vorgesetzte, noch Regierungen. Wer das Gefühl hat, sich rechtfertigen zu müssen, der fühlt sich schnell angegriffen, und wer sich angegriffen fühlt, der fühlt sich bedroht, und wer sich bedroht fühlt, der hat Angst, und wer Angst hat, der verschließt sich.
Der Junge erkannte, dass die meisten Menschen aus einem Grundgefühl der Angst leben und erkannte dieses Grundgefühl auch in sich selbst. Unterschwellig, im Hintergrund, war überall Angst. Angst, nicht mehr dazuzugehören; Angst, den Job zu verlieren; Angst, die eigene Meinung zu sagen; Angst, ausgelacht zu werden; Angst, für einen schlechten Menschen gehalten zu werden; Angst, nicht mehr genug zu haben; Angst, nicht geliebt zu werden; Angst, Angst, Angst, überall Angst. Wovor haben wir alle solche Angst, das fragte sich der Junge. Denn überall um ihn herum sah er Menschen, die Dinge taten, über die sie hinter vorgehaltener Hand selbst schimpften. Niemand wollte es, und doch machten alle mit. Das taten die Menschen aus Angst, das hatte der Junge inzwischen verstanden. Doch er hatte noch nicht verstanden, woher die Angst kam.
Er grübelte viel darüber nach und dann lernte er jemanden kennen, der es ihm erklärte. Das war ein alter Mann, der trotz seines Alters voller Energie und Lebensfreude war. Und dieser alte Mann erklärte dem Jungen, dass die Angst daher kommt, dass die Menschen sich selbst nicht verstehen. Er erklärte und zeigte ihm, dass diejenigen Menschen, die sich selbst gut genug verstehen, ihre Angst verlieren. Diese angstfreien Menschen können dann so leben, wie sie wirklich wollen, und machen nicht mehr aus Angst Dinge, die sie selbst falsch finden. Wer keine Angst mehr hat, der kann sich und andere glücklich machen, das verstand der Junge. Und da verstand er schließlich auch, dass es zwar keine Ritter mehr gibt, ihre Werte aber gerade deswegen nun umso wichtiger sind. Dann machte er sich an die Arbeit.