George Orwell und das Jetzt (Langfassung)
George Orwell schrieb: ‘Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.’ Das gilt nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf individueller.
Um das Zitat zu verstehen, ist folgende Einsicht entscheidend: Vergangenheit bestimmt Identität – und Identität bestimmt Verhalten und damit Zukunft. Da Vergangenheit aber immer nur in der Gegenwart erinnert werden kann, bestimmt die Gegenwart die Vergangenheit – und damit Identität und damit Verhalten und damit Zukunft.
Die Identität einer Gesellschaft oder eines Individuums ist das Produkt der Vergangenheit. Die Gesellschaft ist heute dekadent, weil es ihr in der Vergangenheit zu gut ging, das Individuum ist heute stark, weil es in der Vergangenheit trainiert hat, wir vertrauen uns heute, weil wir in der Vergangenheit erfolgreich zusammengearbeitet haben usw.
Daraus ergibt sich große Macht für unsere Erinnerungen. Gedankenexperiment zur Veranschaulichung: Stell dir vor, du würdest über Nacht all deine Erinnerungen verlieren und morgen als unbeschriebenes Blatt aufwachen. Du wüsstest nicht mehr, wem du vertrauen kannst, wo du hingehörst, wer du bist – du wärst extrem leicht manipulierbar.
Im gesellschaftlichen Kontext sind wir dann sofort bei Geschichtsschreibung und Umbenennung öffentlicher Plätze und dergleichen. Aktuellstes Beispiel: Umbenennung des Bismarck-Zimmers im Auswärtigen Amt in “Saal der deutschen Einheit”.
Für sich genommen unbedeutend, doch es liegt auf der Hand, dass es in der Identitätsbildung eines Menschen einen Unterschied macht, ob er in einem Land voller Paul-von-Hindenburg-Plätze, Bismarck-Zimmer und Theodor-Körner-Kasernen aufwächst – oder in einem Land, dessen Selbstverständnis an einem politisch bestimmten Startpunkt beginnt.
Das sind natürlich Vorgänge, die das Individuum kaum beeinflussen kann. Was wir alle aber sehr wohl beeinflussen können, ist unsere eigene Geschichtsschreibung. Wie erinnerst du deinen Lebensweg? Wie interpretierst du deine Vergangenheit im Jetzt?
Mach dir deinen Interpretationsspielraum bewusst und nutze ihn weise.
Damit meine ich Folgendes: Ganz viele Sachverhalte können gleichermaßen korrekt auf die eine oder andere Art interpretiert werden – das prominenteste Beispiel ist das zu 50% gefüllte Wasserglas, das sowohl halbleer als auch halbvoll ist.
Beide Interpretationen sind korrekt, doch ihre Implikationen sind gegenläufig: Halbvoll korrespondiert mit ‘Ich habe genug’, halbleer korrespondiert mit ‘Ich brauche mehr’. Fülle vs. Mangel, beides gleichzeitig wahr.
Beim zu 50% gefüllten Glas ist das leicht nachvollziehbar, aber wie sieht es mit biographischen Ereignissen aus?
Lass mich das direkt anhand von drei Beispielen veranschaulichen:
Beispiel 1:
Fakt: Du hast dich auf Job XYZ beworben, aber eine Absage erhalten.
Interpretation a: Du warst nicht gut genug.
Interpretation b: Du bist zu gut, deswegen glaubt die Personalabteilung, dass du Forderungen stellen oder bald wieder kündigen würdest.
Interpretation c: Das Schicksal/Gott/X verschafft dir immer genau die Lebenserfahrungen, die notwendig sind, um dich deine Bestimmung erfüllen zu lassen. Diesen Job nicht zu bekommen war notwendig.
Beispiel 2: Wie Beispiel 1, aber mit Liebesbeziehung statt Arbeitsbeziehung.
Beispiel 3:
Fakt: In deiner Kindheit/Jugend/Vergangenheit ist dir etwas Schlimmes widerfahren, das dich heute noch beschäftigt.
Interpretation a: Das Schlimme ist dir widerfahren, weil du Schlimmes verdient hast.
Interpretation b: Sie haben dir das angetan, weil sie neidisch auf dich waren.
Interpretation c: Das Schicksal/Gott/X verschafft dir immer genau die Lebenserfahrungen, die notwendig sind, um dich deine Bestimmung erfüllen zu lassen. Das Schlimme war notwendig, um dich an seiner Überwindung wachsen zu lassen.
Je nachdem, für welche Interpretation du dich entscheidest, wird dein Selbstbild unterschiedlich beeinflusst. Mit anderen Worten: Deine Interpretation der Vergangenheit beeinflusst deine Identität.
Und da dein Verhalten Ausdruck deiner Identität ist und dein Verhalten deinen Lebensweg bestimmt, beeinflusst du so auch deine Zukunft. Wie Orwell schon sagte: Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.
Also was tun?
Frage dich, welche vergangenen Ereignisse dich negativ beeinflussen. Liste sie auf. Dann untersuche, was Tatsache und was Interpretation ist und schreibe beides auf. Nimm dir Zeit dafür. Sobald du damit fertig bist, frage dich: Welche bessere Interpretation wäre genauso möglich? Warum? Schreibe das ebenfalls auf und dann entscheide dich.