Die 3 spirituellen Pfade und die 3 Formen der Meditation

In diesem Text versuche ich, folgende 9 Fragen möglichst kurz und prägnant zu beantworten:

  1. Was ist der Pfad zur rechten Hand?
  2. Was ist der Pfad zur linken Hand?
  3. Was ist der pfadlose Pfad?
  4. Schließen sich die drei Pfade gegenseitig aus?
  5. Wie hängen die drei Pfade mit Gebet und Meditation zusammen?
  6. Was ist Non-Meditation?
  7. Was ist objektive Meditation?
  8. Was ist subjektive Meditation?
  9. Was ist das Ziel?


Es gibt drei spirituelle Pfade – wobei der dritte die konventionelle Vorstellung eines Pfades transzendiert. Was ist die konventionelle Vorstellung eines Pfades? Dass ein Pfad ein Weg ist, und dass man auf Wegen von A nach B kommt. Das ist natürlich nicht falsch, aber wo auch immer wir hingehen, da sind wir – aber dazu später mehr, schauen wir uns zuerst den Pfad zur rechten Hand und dann seinen Gegensatz an.


Der Pfad zu rechten Hand besteht darin, sich einer Autorität außerhalb des individuellen Selbst zu unterwerfen. Diese externale Autorität kann viele verschiedene Formen annehmen, z.B. ein Priester, Guru oder dergleichen, der im Denken des “rechtshändigen” Individuums “Gott” auf Erden vertritt – oder, und das ist im frühen 21. Jahrhundert der Normalfall, “die Gesellschaft” und ihre Werte und Normen.


Der Pfad zur rechten Hand besteht also darin, seine individuelle Verantwortung an jemanden oder etwas abzugeben. Ob der Empfänger der abgegebenen Verantwortung ein Individuum, eine Institution oder eine diffuses Geflecht von Individuen und Institutionen ist, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist nur: Jemand der auf dem Pfad zur rechten Hand durchs Leben geht, ist nicht selbst seine höchste Autorität, ist nicht sein eigener Endrichter.


Der Pfad zur linken Hand ist das Gegenteil: Das Individuum ist sich selbst höchste Autorität und Endrichter. Mit anderen Worten: Mein eigenes Gewissen ist der letztgültige Maßstab meines Handelns. Externale Autoritäten können beachtet und anerkannt werden, aber es ist die Entscheidung des Individuums, das zu tun oder nicht zu tun – und somit kann das Individuum seiner Eigenverantwortung nicht mehr entkommen.


Der Pfad zur linken Hand ist also der Weg der konsequenten Individuation, völlig unabhängig davon, wie andere Menschen diese Individuation bewerten. Nur meine eigene Wertung meines Verhaltens zählt – ich kann natürlich auch andere Meinungen berücksichtigen, aber es ist und bleibt meine Entscheidung, ob ich das tue oder nicht. Ich bin meines Glückes Schmied und nur mein eigenes Urteil über mich zählt.


Wenn wir diese beiden Pfade überzeichnet miteinander vergleichen, dann haben wir also Individualismus, Selbstverwirklichung und das Ignorieren bestehender Regeln, Gesetze usw. auf der einen und Kollektivismus, Selbstaufgabe und das Beachten bestehender Regeln, Gesetze usw. auf der anderen Seite. 


Da Regeln, Gesetze usw. sich je nach Urheber und Kontext stark unterscheiden, kann ein Leben auf dem Pfad zur rechten Hand ganz unterschiedliche Formen annehmen. Beispielsweise unterwirft sich Person A den Regeln, Gesetzen usw. der BRD-Massengesellschaft, Person B unterwirft sich den Regeln, Gesetzen usw. eines katholischen Franziskanerordens und Person C unterwirft sich den Regeln, Gesetzen usw. einer kriminellen Großfamilie. 


Das Leben auf dem Pfad zur linken Hand ist freier und kann daher äußerst individuelle Formen annehmen – wobei natürlich niemand seinen menschlichen Bedürfnissen entkommen kann, auch nicht dem Bedürfnis nach Gemeinschaft. Und daher schließen sich auch Menschen auf dem Left-Hand Path (LHP) zu Gemeinschaften zusammen, die dann selbst wieder Regeln, Gesetzen usw. erschaffen, wie z.B. im Großen die Aghori und im Kleinen die Sonnenwölfe.


So bringt der LHP dann im Laufe der Jahrhunderte mitunter selbst Strukturen hervor, denen sich Menschen auf dem RHP unterwerfen und von denen es sich dann wieder auf dem LHP zu befreien gilt – und so dreht sich das Rad immer weiter. (Ein gutes Beispiel dafür ist “das Christentum”: Zu Beginn eine verfolgte Minderheit, die gegen starken Widerstand der Mehrheit ihr eigenes Ding machte – und ein paar Jahrhunderte später so verkrustet, dass Luther eine Runde reformieren und eine neue Kirche schaffen musste, die inzwischen vielleicht selbst unreformierbar krank ist.)


Dieses Rad dreht sich immer weiter – weil wir Menschen eben so sind – und sobald das in seiner Unausweichlichkeit erkannt wurde, beginnt der ganze LHP-RHP-Dualismus anders auszusehen. 


Damit zurück zu meiner anfänglichen Bemerkung bezüglich des konventionellen Verständnis von Pfaden bzw. Wegen. Üblicherweise gehen wir davon aus, dass uns unser Weg von unserem Startpunkt zu einem Endpunkt bringt. Aber das Rad dreht sich immer weiter im Kreis – es gibt keinen Anfang und kein Ende, sondern nur ewige Zyklizität, die wir im ewigen Jetzt als unseren Weg erleben. 


Und sobald uns vollumfänglich klargeworden ist, dass wir in ultimativer Analyse nirgendwo hingehen, sondern immer genau da sind, wo wir schon immer waren und immer sein werden, spielt es keine Rolle mehr, ob wir rechtsrum oder linksrum gehen. Ab diesem Punkt sind wir auf dem pfadlosen Pfad und die Gegensätze zwischen LHP und RHP lösen sich auf. Wir erkennen dann, dass Gott und Selbst in ultimativer Analyse identisch sind und alle Gegensätze (zwischen LHP und RHP, zwischen heiß und kalt, zwischen gut und böse usw.) nur als solche erlebt werden können, weil sie in uns auftreten. 


Die Nondualität ist der Raum, in dem die Dualitäten auftreten – und wir sind dieser Raum; dieses sich selbst wahrnehmende Feld von Bewusstsein, das sich zu Körper, Geist und Welt moduliert. Jetzt liegt plötzlich auf der Hand, dass wir all die Jahre nach uns selbst, dem Sucher, gesucht haben – ganz gleich, ob wir zuvor glaubten, Glück bzw. Gott auf dem Pfad zur linken oder auf dem Pfad zur rechten Hand zu finden.


Jetzt sind wir angekommen – wo wir schon immer waren. Und von nun an können wir überall langgehen – linksrum, rechtsrum, geradeaus. Nicht weil wir dadurch irgendwo hinkommen, sondern einfach weil wir gerne gehen. Der Pfad zur linken und der Pfad zur rechten Hand sind ab jetzt keine Gegensätze mehr, sondern einfach unterschiedliche Ausdrucksformen unseres wahren Selbst – Selbstverwirklichung und Hingabe an Gott werden als das erkannt, was sie letztendlich sind: Identisch.


Ab diesem Punkt ist alle Erfahrung – ganz gleich ob gut oder schlecht – nur noch ein Spaziergang, ein Ausflug ins Reich der Erfahrung. Und egal was im Reich der Erfahrung passiert, zuhause sind wir im Reich des Seins.


Für unseren auf das Auf-und-Ab des Lebens fokussierten Geist ist erfahrungsfreies Sein – wie im Tiefschlaf – vielleicht nicht der Rede wert; aber genau dieser auf das Auf-und-Ab des Lebens fokussierte Geist ist nur ein temporär in uns auftretendes Phänomen, und das ist uns sonnenklar, sobald wir im Reich des Seins zuhause sind.


Einfach zu sein, das ist die höchste Form der Meditation und der pfadlose Pfad. Erfahrung kommt und geht, aber wir bleiben. Dieses Sein ist gemeint, wenn der Zen-Meister fragt ‘Wie sah dein Gesicht aus, bevor deine Eltern geboren waren?’. Es ist was Jesus meinte, als er sagte ‘Bevor Abraham war, ich bin’. Es ist das Sein der Nornen, die schon vor Odin und Balder da waren. Es ist Gottes Gegenwart. Es ist die Ewigkeit, jetzt.


Und wie hängen die drei Pfade mit Gebet und Meditation zusammen? 


So wie es drei spirituelle Pfade gibt, so gibt es auch drei Formen der Meditation bzw. des Gebets. Ich benutze die Begriffe Meditation und Gebet hier synonym, weil sie – trotz ihrer kulturellen Unterschiede und Konnotationen – funktional gesehen identisch sind. Damit meine ich, dass sowohl das, was üblicherweise Meditation genannt wird, als auch das, was üblicherweise Gebet genannt wird, eine Abkehr von der 5-Sinne-Welt und eine Versenkung in die Innenwelt ist – jedenfalls in den ersten beiden Formen. In der dritten Form wurde die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt als illusionär erkannt und an die Stelle von Abkehr und Versenkung tritt wissentliches Allsein.


Mit wissentlichem Allsein meine ich, sich der Tatsache gewahr zu sein, dass all unsere Erfahrung bzw. all unser Erleben unsere eigene Aktivität ist – so wie die Wellen des Ozeans die Aktivität des Ozeans sind. Das ist Sahaja Samadhi, die Vergegenwärtigung Gottes im praktischen Leben: Wir sind uns während weltlicher Erfahrung bewusst, dass alle weltliche Erfahrung das ewige Wechselspiel des Einen Selbst ist – in metaphorischer Sprache: Alle Individuen sind Avatare Gottes, mittels derer er seinen eigenen ewigen Traum aus zahllosen sich stetig wandelnden Perspektiven wahrnimmt. 


Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Meditation/Gebet und praktischem Leben/Alltag. Unser gesamtes Leben ist Gottesdienst, alles was wir tun, alles was wir sind, ist Sein Selbstausdruck, Seine Selbsterfahrung. Meditation ist nicht mehr etwas, das wir tun, sondern was wir sind. Natürlich können wir uns trotzdem noch still hinsetzen und unsere Aufmerksamkeit von der 5-Sinne-Welt abwenden, einfach um uns auszuruhen, aber uns ist klargeworden, dass Meditieren und Beten nicht spiritueller sind als Holzhacken, Wasserholen und Gärtnern. 


Dieses Verständnis drückte z.B. Ramana Maharshi wie folgt aus:

Don’t meditate – just be. For those who can practice Self-enquiry, all rules and disciplines are unnecessary. Who is the meditator? Ask the question first. Remain as the meditator. There is no need to meditate. 


Aber was gilt für denjenigen, für den just be in der Praxis bedeutet, negative Gedanken und Gefühle zu erleben? Einfach glücklich zu sein, wer ich wirklich bin – das ist nur demjenigen möglich, der erkannt hat, wer er wirklich ist. Und das bringt uns zu Self-enquiry bzw. Selbstbefragung bzw. subjektiver Meditation.


Subjektive Meditation ist das Gegenteil von objektiver Meditation. Bei subjektiver Meditation (synonym mit Self-enquiry / Selbstbefragung) wenden wir unsere Aufmerksamkeit von den Objekten unserer Erfahrung ab – und wenden sie dem Subjekt unserer Erfahrung, also uns selbst, zu.


Ein Objekt unserer Erfahrung – synonym mit Bewusstseinsobjekt – ist alles, was wir mit unserer Aufmerksamkeit erfassen können. Also nicht nur physische Objekte wie z.B. Kaffeetassen und Odinsbüsten, sondern auch mentale Objekte wie z.B. Gedanken, Gefühle, Vorstellungsbilder usw.

Dementsprechend besteht objektive Meditation darin, sich auf ein Bewusstseinsobjekt zu fokussieren bzw. zu konzentrieren. Zum Beispiel auf eine Kerzenflamme oder ein Mantra oder die eigene Atmung oder eine Heiligenfigur oder oder oder. Das hat einen beruhigenden Effekt, da unsere Aufmerksamkeit nun nicht mehr zwischen zehntausend Dingen hin und her springt, sondern sich eben fokussiert.  


Da diese Form der Meditation am einfachsten zu erklären und zu verstehen ist, ist sie die häufigste Form. Subjektive Meditation hingegen ist seltener, vermutlich vor allem, weil sie für den auf objektive Erfahrung getrimmten Geist schwerer zu verstehen ist. 


Mit objektiver Erfahrung meine ich einfach nur das Wahrnehmen bzw. Erfahren von Bewusstseinsobjekten – jeder versteht z.B. die Anweisung ‘Konzentriere dich auf deine Atmung’ – aber wenn ich zu dir sage ‘Wende deine Aufmerksamkeit ihrem Ursprung zu’, was machst du dann?


Hier liegt der Hase fett im Pfeffer: Du kannst den Ursprung deiner Aufmerksamkeit nicht erfassen, weil du selbst der Ursprung deiner Aufmerksamkeit bist. Sich mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen, das ist subjektive Meditation. 


Du bist das Subjekt deiner Erfahrung, der Wahrnehmer deiner Wahrnehmungen – aber so wie die Sonne sich nicht selbst anstrahlen kann, so kannst du die Strahlen deiner Wahrnehmung nicht auf dich selbst richten – weil du ihr Ausgangspunkt bist.


Alles was die Sonne anstrahlt, ist nicht sie selbst. Alles was du wahrnimmst, bist nicht du selbst. Du bist nicht dein Körper und du bist nicht dein Geist – du hast ein Körper-Geist-System – so wie die Sonne ihr Sonnensystem hat. Dein Körper und dein Geist sind dir zugeordnet, so wie die 8 Planeten der Sonne zugeordnet sind, aber du bist weder der von dir wahrgenommene Körper noch der von dir wahrgenommene Geist – so wie die Sonne nicht die von ihr angestrahlten Planeten ist.


Dein Körper ist bei ehrlicher Betrachtung ein Strom von Sinneseindrücken und Gefühlen, den dein Denken zu deinem Körper konzeptualisiert.


Dein Geist ist bei ehrlicher Betrachtung ein Strom von Gedanken und Gefühlen, den dein Denken zu deinem Geist konzeptualisiert. (Gedanken im weitesten Sinne, also inkl. Vorstellungsbilder, Erinnerungen, Eingebungen usw.)


Und das Konzeptualisieren, mit dem du diesen Strom von Kognition zu deinem Körpergeist konzeptualisierst, ist selbst Teil dieses Stromes. Wissentlich dieser Fluss zu sein, das Sahaja Samadhi, Non-Meditation, die Vergegenwärtigung Gottes – und um wissentlich dieser Fluss sein zu können, müssen wir uns zunächst als ihn erkennen – und das gelingt uns durch Selbstbefragung bzw. subjektive Meditation, die Untersuchung des Subjekts, des Selbst.


Hier drehen wir unsere Aufmerksamkeit um 180 Grad und suchen nach ihrem Ausgangspunkt – den wir niemals finden, weil wir kein Objekt innerhalb unseres Bewusstseinsfeldes, sondern selbst dieses Feld sind.


Bitte glaub mir das nicht, sondern untersuche und überprüfe das unbedingt für dich selbst. Das ist dann tatsächlich angewandte Selbstbefragung bzw. subjektive Meditation. Ich kann dir Tipps dazu geben, aber den Weg gehen musst du selbst – diesen direkten Weg zur Selbsterkenntnis, diesen direkten Pfad.


Bildhaft gesprochen: Während der Pfad zur linken Hand links herum und der Pfad zur rechten Hand rechts herum zum Ziel geht, geht der direkte Pfad geradeaus zum Ziel. Selbstbefragung/subjektive Meditation ist dieser Direct Path – und ganz gleich welchen Pfad wir gehen, am Ende kommen wir ans gleiche Ziel: Die Erkenntnis der Einheit von Gott und Selbst. Genauso wie die linkshändigen und rechtshändigen Pfade in den pfadlosen Pfad münden, so führt auch der direkte Pfad an den gleichen ortlosen Ort: Zu uns selbst, der Ewigkeit, hier und jetzt, frei.



Zwei Schlussbemerkungen:

Diesen Text intellektuell zu verstehen ist nicht genug – du musst deinen Weg tatsächlich gehen, auch wenn dir klar ist, dass er dich wieder zurück zum Anfang bringt. Die Wahrheit kann nicht durch Suchen gefunden werden, aber nur Sucher finden sie. Mit schöneren Worten: We shall not cease from exploration, and the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time. (T.S. Eliot)


Der direkte Pfad der Selbstbefragung (Self-enquiry, Selbstuntersuchung, subjektive Meditation) könnte guten Gewissens als vierter spiritueller Pfad gezählt werden. Ich habe das hier nicht getan, da der pfadlose Pfad das unausweichliche Ergebnis des direkten Pfades ist – man könnte sie daher als zwei Abschnitte desselben Weges begreifen. Ein Mensch kann sein ganzes Leben lang linksherum oder rechtsherum gehen, ohne je ans Ziel zu kommen, aber der direkte Pfad führt – wenn er konsequent zu Ende gegangen wird – definitiv ans Ziel.